Berlin. Ärmere Menschen sterben früher und erkranken oft schwerer. Laut Experten reicht ihr Geld nicht für eine gesundheitsfördernde Ernährung.

  • Hartz IV reicht für eine gesunde Ernährung nicht aus
  • Studien haben ergeben, dass der Regelsatz für eine abwechslungsreiche Mischkost viel zu gering ist
  • Politiker fordern deshalb deutlich mehr Geld

Wenn Beate K.* genug Geld hätte, würde sie gerne im Bioladen um die Ecke einkaufen. Gesunde Ernährung ist der Hartz-IV-Empfängerin aus Berlin wichtig. Deshalb gibt sie einen Großteil ihres Einkommens für Lebensmittel aus. "Ich kaufe nie neue Klamotten oder Bücher", sagt sie. Trotzdem reicht es nur für den Einkauf im Discounter - und oft noch nicht mal das.

Hartz IV wurde zum 1. Januar 2023 durch das Bürgergeld ersetzt. Alle Infos zum Bürgergeld finden Sie hier.

Die alleinerziehende Mutter bringt sich und ihren achtjährigen Sohn auch mit Essen von der Tafel über die Runden. "Aber in letzter Zeit gibt es hier ganz wenig Gemüse, dafür viel Brot, Süßigkeiten und Nudeln."

Martin D.* setzt stattdessen auf Selbstversorgung. Der Berliner erntet regelmäßig Obst im Kleingarten seiner Eltern, kocht Marmelade für das ganze Jahr ein und trocknet Pilze im Herbst. Sich eine gesunde Ernährung leisten zu können, ist für den Hartz-IV-Bezieher nicht selbstverständlich. Auf ein gutes Stück Fleisch aus artgerechter Haltung muss er sparen. Und geht die Waschmaschine plötzlich kaputt, ist die Not groß. "Ich habe mich zum Essen auch schon häufiger bei meinen Eltern eingeklinkt."

Experten und Politiker sind sich einig, dass der Hartz-IV-Regelsatz dauerhaft nicht für eine gesunde Ernährung reicht.
Experten und Politiker sind sich einig, dass der Hartz-IV-Regelsatz dauerhaft nicht für eine gesunde Ernährung reicht. © Zacharie Scheurer/dpa-tmn

Hartz IV reicht nicht für eine gesunde Ernährung

Wie Beate K. und Martin D. leben rund 3,9 Millionen Menschen in Deutschland von Arbeitslosengeld II. Im Monat sind das für einen alleinstehenden Erwachsenen 446 Euro. Rund 5 Euro täglich davon sieht der Gesetzgeber für Lebensmittel vor. Eine abwechslungsreiche, ausgewogene Mischkost, die den Menschen mit den nötigen Nährstoffen versorgt, kostet im Monat aber rund 250 Euro, also 8 Euro täglich.

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Das hätten verschiedene Studien ergeben, erklärt der Ernährungswissenschaftler Prof. Dr. Hans K. Biesalski. "Da können Sie so gut kochen, wie Sie wollen", sagt der Mediziner von der Universität Stuttgart-Hohenheim. Dauerhaft reiche der Hartz-IV-Regelsatz nicht für eine gesunde Ernährung. Biesalski sowie weitere Experten und Politiker fordern deshalb mehr Geld für Hartz-IV-Empfänger. Doch die Bundesregierung sieht bisher keinen Handlungsbedarf.

Hartz-IV-Beziehende: Hinweise auf Mangelernährung

Dabei ist billig das, was satt macht, einen hohen Energiegehalt, aber wenig Mikronährstoffe hat und damit nicht sonderlich gesund ist - wie Weißbrot, Nudeln und Fertiggerichte. Lebensmittel mit mehr Mikronährstoffen und Vitaminen wie etwa Obst, Gemüse, Vollkorn- und Milchprodukte sind hingegen teurer. Das Fazit des Ernährungsmediziners Biesalski: "Satt sein ist nicht genug."

Denn wie man sich ernährt, beeinflusst die körperliche Leistungsfähigkeit und die Gesundheit grundlegend, so das Robert Koch-Institut (RKI) in einer Gesundheitsberichtserstattung. Und um den Gesundheitszustand von Hartz-IV-Beziehenden steht es nicht besonders gut, wie verschiedene Studien zeigen:

"Das alles sind Hinweise dafür, dass bei ärmeren Menschen in Deutschland eine Mangelernährung vorliegt", sagt Biesalski. Auch wenn nicht alle gesundheitlichen Probleme darauf zurückzuführen seien, so könnte doch mit der richtigen Ernährung ganz schnell etwas geändert werden.

Corona erschwert die Ernährung von Hartz-IV-Empfängern

Was gesunde Ernährung genau heiße, müsse jeder für sich selbst beantworten können, so die Bundestagsabgeordnete Katja Kipping. Für die Linken-Politikerin bedeutet es, dass es eine Vielfalt gibt, dass man nicht das billigste Toastbrot nehmen muss, sondern sich auch frisches Obst und Gemüse sowie Vollkornprodukte leisten kann.

Auch sie ist überzeugt, dass die Hartz-IV-Leistungen dafür nicht reichen. "Für die Berechnung des Regelsatzes wird das Ausgabeverhalten von Leuten, die faktisch unter der Armutsgrenze leben, herangezogen", erklärt Kipping und fordert eine Anhebung auf mindestens 658 Euro im Monat.

"Die Bundesregierung spielt hier mit der Gesundheit der Menschen", sagt die Parlamentarierin. Durch die Corona-Pandemie werde eine gesunde Ernährung für Hartz-IV-Empfänger nochmals erschwert. "Die Preise für frisches Obst sind in der Krise teilweise gestiegen. Zusätzliche Kosten für Masken, Desinfektionsmittel oder Selbsttests müssen bewältigt werden."

Ein weiterer wichtiger Punkt: Durch Schulschließungen fällt die tägliche kostenlose, warme Mahlzeit für Kinder von Hartz-IV-Beziehenden weg.

Katja Kipping, ehemalige Bundesvorsitzende der Linken, fordert höhere Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger.
Katja Kipping, ehemalige Bundesvorsitzende der Linken, fordert höhere Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger. © Robert Michael/dpa-Zentralbild/dp

Experte: Regierung ignoriert Hartz-IV-Ernährungsproblem

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Sven Lehmann hat erst vor wenigen Monaten die Bundesregierung gefragt, wie sie sicherstellen will, dass sich Menschen im Grundsicherungsbezug gesundheitsfördernd ernähren können. Doch diese sieht keinen Überprüfungsbedarf.

Dabei hat sogar der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz, der das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft berät, empfohlen, die Regelsätze zu überprüfen.

"Ich bin insgesamt sehr enttäuscht von dem, was die Bundesregierung im Bereich der Grundsicherung gemacht hat - nämlich fast gar nichts", sagt Lehmann. Dass nun Ergebnisse von Wissenschaftlern, die die Regierung beraten, vom Tisch gewischt werden, erschüttere ihn. Damit sich Hartz-IV-Betroffene auch eine gesunde Ernährung leisten können, müsse der Regelsatz bei 600 Euro monatlich liegen.

Laut Ernährungsmediziner Biesalski ignoriert die Bundesregierung das Ernährungsproblem von Kindern aus armen Familien nicht erst seit der Corona-Pandemie. Neben höheren Leistungen müsse in der aktuellen Krise das Problem der geschlossenen Mensen kompensiert werden. "Möglich wäre, die Kinder über Verteilungsstationen mit einer täglichen warmen Mahlzeit als Ersatz für die Schulspeisung zu versorgen. Erste regionale Initiativen zeigen, dass es möglich ist."

Psychische Belastung für Hartz-IV-Empfänger ist hoch

Die Hartz-IV-Beziehenden Beate K. und Martin D. leben schon viele Jahre am Existenzminimum. Auch sie sagen, dass ihnen mit mehr Geld geholfen wäre. "Damit man auch mal für Notfälle was auf die Seite legen kann", sagt Martin. Dennoch sind beide überzeugt, dass sie sich durch Sparsamkeit, Spenden und Selbstversorgung gesund ernähren können.

Die psychische Belastung, nicht immer zu wissen, wie man über die Runden kommt, ist aber groß. "Ich schaffe es auch manchmal nicht, zur Tafel zu gehen", sagt Beate K. Wenn sie eine halbe bis dreiviertel Stunde im Regen anstehen müsse, gehe es ihr oft sehr schlecht. Beide sagen, dass sie sich in fast allen Bereichen abgehängt fühlen. "Aber Essen ist eben das Wichtigste", so Martin D.

*Namen von der Redaktion geändert

Dieser Artikel erschien zuerst bei morgenpost.de.